Ambidextrie

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„Ich kann nur sagen, dass die Zukunft nicht in der Exploitation liegt. Lediglich das Kerngeschäft aufzubauen, wird nicht genug sein in einer Welt der künstlichen Intelligenz, des Digitalen, der Offenheit, der Ökosysteme. Man sollte tunlichst herausfinden, wie man weiterhin das Kerngeschäft verfolgen und gleichzeitig Exploration forcieren kann.“ 

(Michael L. Tushman, 2020, S. 8)1

Agile Educational Leadership ist meine Einladung, gemeinsam Schritt für Schritt die Zukunft der Bildung anzugehen und durch gemeinsames Handeln den eigenen Bildungsbereich möglichst wirksam und nachhaltig zu gestalten. Und wenn auch vermutlich Dynamik und Transformation nicht gerade die ersten Stichworte sind, die einem auf die Frage nach Kennzeichen des Bildungsbereiches und des hier exemplarisch hervorgehobenen Hochschulbildungsbereiches einfallen, so gehören sie heute zu dessen Kontextbedingungen. Und noch seltener fällt derzeit das Stichwort von Ambidextrie in Bezug auf den Bereich von Schule und Berufsbildung über Hochschulbildung bis hin zur Erwachsenen- und Weiterbildung als Bezeichnung für den erfolgreichen Umgang mit parallel vorhandenen widersprüchlichen Handlungsräumen oder Spannungsfeldern. Doch genau in dieser ambidextren Perspektive wird hier ein möglicher Ansatzpunkt für die Gestaltung des (Hochschul-)Bildungsbereiches gesehen, um sich selbst und seine Bildungsangebote auf eine zukünftige Handlungsfähigkeit auszurichten. Wird von Ambidextrie gesprochen, wird – wie im Eingangszitat erfolgt – zugleich auf zwei dafür konstituierende Modi verwiesen, die für das Spannungsfeld bestimmend sind: der Modus der Exploration (hier im Sinne von Neues erkunden oder innovieren) und der Modus der Exploitation (hier im Sinne von Optimierung). Die Frage, die sich also mit Blick auf ein „Educational“ unter den Bedingungen einer Kultur der Digitalität stellt, ist, wie sich der Bildungsbereich heute souverän in einer enorm widersprüchlichen Konstellation zwischen Exploitation, also Optimierung entlang jahrzehntelanger Erfahrungen, und Exploration im Sinne von Neuausrichtung und Erprobung veränderter Strukturen und Modelle bewegen kann?  

So mag eine ‚entweder oder‘-Perspektive auf diese Widersprüchlichkeit vermutlich als derzeit passend erscheinen, denn als staatlich gefördertes (Hochschul-)Bildungssystem gäbe es kaum etwas von Seiten eines dynamischen Marktes zu befürchten (wie es beispielsweise in anderen Ländern wie den USA der Fall ist). Und so scheint es derzeit vor allem um eine Optimierung des Kerngeschäfts zu gehen – oder wie es in der Pandemiesituation häufiger zu hören ist, wie man unter den aktuellen Umständen möglichst nah an die bisher bekannte Normalität herankommen kann. Mit Agile Educational Leadership wird nun eine andere Perspektive vorgeschlagen, die sich auf das erwähnte Konzept der Ambidextrie stützt: Mit Agile Educational Leadership möchte ich alle Akteur_innen und darunter vor allem alle beteiligten Personen dazu einladen, souverän im Spannungsfeld eines ‚sowohl als auch‘ zu handeln. 

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Dynamik und Widersprüche als Kontextbedingungen im Bildungssystem

Das deutsche Bildungssystem zeichnet sich, wenn man dabei vor allem an den schulischen Bereich denkt – neben seiner föderalen Besonderheit – durch Stabilität, hoher Bürokratisierung und formaler, institutioneller Verlässlichkeit aus. Schaut man zudem in die unterschiedlichen Bildungsbereiche wie außerschulische Bildung, berufliche Bildung oder Erwachsenenbildung und Weiterbildung einschließlich einer lebenslangen Perspektive, kann davon ausgegangen werden, dass alle Bereiche entsprechend ihrer Zielgruppe zu jeder Zeit versuchen, bestmögliche Bildungsangebote bereitzustellen.  Nachfolgend soll hierfür exemplarisch der Hochschulbildungsbereich genauer betrachtet werden, bevor im Anschluss das Handlungskonzept Ambidextrie ausführlicher beschrieben wird. 

Beispiel Hochschulbildung und Forschung
Heute zeichnet den Hochschulbereich und vor allem die Universitäten, wie wir sie kennen, aus, dass es zu ihrem Kern gehört, sich kritisch und forschend mit dem Neuen, mit der Innovation und dem Unbekanntem auseinanderzusetzen. Es gehört also zum Wesen von Hochschulen systematisch nach dem Neuen Ausschau zu halten, es zu explorieren und es im Verhältnis zum bisherigen Wissensstand kritisch zu reflektieren und miteinander in Beziehung zu bringen. Das kann dazu führen, dass bisher geltende Kenntnisstände revidiert und neu bewertet werden müssen. Denn die Leitidee ist hier, knapp beschrieben, dass keine Wahrheit, kein Wissen absolut und feststehend ist. Es hat stattdessen nur so lange Geltung, bis im forschenden Handeln und in der methodisch nachvollziehbaren Auseinandersetzung mit Empirie und Theorieentwicklung ein systematisch begründbarer gegenteiliger Befund auftritt, dieser in der Fachgemeinschaft kritisch gewürdigt wurde und je nach Ergebnis des Reviews mitunter eine Anpassung des jeweiligen Wissensstands erfolgt. Dieses sogenannte Falsifikationsprinzip3 lässt sich sicher einfacher nachvollziehen, wenn neue Messdaten dazu führen, dass bisherige Annahmen nachjustiert werden müssen oder im Sinne eines Fortschritts präzisiert werden können; doch gilt das Prinzip ebenso, wenn neue prähistorische Skelettfunde dazu führen, dass wir in der Presse lesen können, dass bestimmte Annahmen über die menschliche Früh- und Vorgeschichte neu bewertet und verbessert werden müssen.  

Die beschriebenen Perspektiven auf das Schaffen von Wissen sollen deutlich machen, dass das Wesen der Hochschulen also in jedem Fach bereits vom Gedanken eines ‚sowohl als auch‘ getragen wird: Es wird sowohl mit der bestehenden Wissensbasis gearbeitet und diese verbessert und optimiert als auch permanent mit passenden Methoden forschend nach ihrer Aktualisierung und Neuerung gestrebt. Forschung und Wissenschaft unterliegen insofern einer ständigen Dynamik, auf die sie systematisch und souverän reagieren. 

Exkurs: Forschendes Lernen
Nun läge es nahe anzunehmen, dass es basierend auf den Erfahrungen in der Forschung mit Blick auf die ebenso stetige Weiterentwicklung des Hochschulbildungsbereiches im engeren Sinn präsentiert durch Studium und Lehre, ähnlich sei. Doch wie widersprüchlich sich mitunter die Haltungen und Perspektiven zwischen Forschung und Lehre in Hochschulen gestalten, lässt sich an der langjährigen Diskussion über passende Lehr- und Lernformen in der Hochschule nachvollziehen. So besteht seit Jahrzehnten ein Bestreben darin, neben beispielsweise der traditionellen Vorlesung, dem Seminar oder der (Labor-)Praxiserfahrung in der Breite über alle Fächer hinweg forschendes Lernen stärker zu etablieren. Dieses zeichnet sich dadurch aus, „dass die Lernenden den Prozess eines Forschungsvorhabens, das auf die Gewinnung von auch für Dritte interessanten Erkenntnissen gerichtet ist, in seinen wesentlichen Phasen – von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in selbstständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit in einem übergreifenden Projekt – (mit)gestalten, erfahren und reflektieren“ (Huber, 2009, S. 11)4

Diese sehr hochschulspezifische Form des Lehrens und Lernens, wie sie aber auch mindestens ebenso in ihren Grundzügen im schulischen Kontext zum Einsatz kommt, birgt, bezogen auf die Inhalte und Gegenstände, das Potenzial der Auseinandersetzung mit einem ‚sowohl als auch‘ in der Lehre, wenn sie in ihrer tatsächlichen auf Förderung forschender Selbstbestimmung ausgerichteten Form zum Einsatz kommt. Sie kann also nüchtern betrachtet als tatsächlich forschendes Lernen einen großen Beitrag zu einer zeitgemäßen und auf den Umgang mit ungewissen Problemlösungen vorbereitenden Lehre beitragen. Doch unabhängig von der Umsetzung mehr oder weniger offener Varianten forschenden Lernens (Huber & Reinmann, 2019)5, stellt das forschende Lernen bis heute zwar einen didaktischen Ansatz, der viele Leitbilder guter Lehre von Hochschule ziert, dar, doch ist dieser in allen Studiengängen in der konkreten Umsetzung keine flächendeckende Selbstverständlichkeit. Bis heute bedarf es daher für ein eigentlich naheliegendes Format wie dem forschenden Lernen einer unermüdlich forschenden Begründung und Argumentation; dies gilt im Übrigen auch mit Blick auf einen möglichen Beitrag zum Erwerb von Zukunftskompetenzen oder 21st Century Skills für viele eher offene, partizipative und im Kern lernendenorientierte Lehr- und Lernformate, wozu beispielsweise auch Problembasiertes oder auch Fallbasiertes Lernen zählen.

Moduswechsel 
Dass ein souveränes ‚sowohl als auch‘ im Bildungsbereich heute im Alltag eher hinter einer ‚entweder oder ‘-Perspektive zurücksteckt, wird nochmals am Beispiel der Digitalisierung deutlich. Ähnlich wie im Unternehmenskontext trifft die digitale Transformation auch die unterschiedlichen Bildungsbereiche auf vielfältige Weise in ihrem organisationalen Rahmen – angefangen von ihrer notwendigen Technisierung und Digitalisierung, über eine digitale Transformation ihrer eigenen Verwaltungs- und Geschäftsprozesse bis hin zum kulturellen Wandel unter den Bedingungen einer Digitalität. Daneben dürften Fragen der Digitalisierung und Digitalität in allen Fächern selbst auch Thema oder Gegenstand sein. Hier wäre also zu hinterfragen, inwiefern das eingangs aufgeworfene Bild eines stabilen und beharrenden Bildungsbereiches jenseits dynamischer Einflüsse überhaupt einer Thematisierung bedarf? Doch allein das Thema der Digitalisierung im Sinne der Schaffung einer tragfähigen Infrastruktur mit Blick auf Bildungstechnologien beschäftigt den gesamten Bildungsbereich, welcher im internationalen Vergleich nicht nur auf Grund von föderalen Besonderheiten hinterherhinkt (siehe exemplarisch für Bildungstechnologie im Hochschulbildungsbereich Kerres, 2020)6.  

Umso wichtiger erscheint es zu hinterfragen, inwiefern es nicht für den gesamten Bildungsbereich an der Zeit ist, seine überaus starke Fokussierung auf das Kerngeschäft im Verhältnis zum Engagement für Innovationen und zukunftsorientierte Entwicklungen zu überdenken und nach alternativen Wegen Ausschau zu halten. Hierbei könnten vermutlich mindestens zwei Neuorientierungen einen Versuch wert sein: zum einen ein selbstverständlicheres Denken und Handeln in kleinen, iterativen Schritten und zum anderen eine selbstverständlichere ambidextre Perspektive im Sinne eines ‚sowohl als auch‘ bei Entscheidungen und Umsetzungsprozessen. Denn warum sollte für den Bildungsbereich als ebenso betroffener Teil des gesellschaftlichen Megatrends Digitalisierung eine so gänzlich andere Perspektive gelten, als sie Tushman im Eingangszitat für den Unternehmensbereich formuliert? 

Ambidextrie

Wenn bisher von einer Perspektive des ‚sowohl als auch‘ für den gesamten Bildungsbereich gesprochen wurde, war und ist damit grob eingeordnet das Einnehmen einer ambidextren Perspektive gemeint (siehe mit Perspektive auf Unternehmen für aktuelle deutschsprachige Entwicklungen und Arbeiten beispielsweise unter https://www.ambidextrie.de/ und https://www.thinktank-ambidextrie.com). Da die ambidextre Perspektive in nachfolgenden Kapiteln wie Agilität und Leadership und adaptiert in einer zusammenführenden Perspektive Agile Educational Leadership wiederholt aufgegriffen wird, wird es nachfolgend über die obige Kurzbeschreibung in der Einleitung dieses Kapitels hinaus nun ausführlicher in seinem ursprünglichen Sinne eingeführt und beschrieben.  

Ambidextrie steht dem wörtlichen Ursprung entlehnt für Beidhändigkeit und meint damit die Kunst oder Fertigkeit, souverän beidhändig agieren zu können ohne besondere Bevorzugung – ähnlich der Fähigkeit mit der linken und rechten Hand gleichermaßen schreiben zu können. Dieses Prinzip wurde ursprünglich vor allem auf Führungskräfte oder Entscheider_innen übertragen. Ambidextrie oder ambidextres Handeln als Konzept entstammt der Managementlehre und Organisationstheorie und steht für die Fertigkeit von Personen im souveränen Umgang mit parallel existierenden, nicht aufzulösenden, widersprüchlichen Richtungen und Bereichen auf Ebene einer Organisation oder wie hier noch herauszustellen und im weiteren Verlauf für ein Agile Educational Leadership noch von größerer Relevanz sein wird, auf Ebene einer oder der eigenen Person.  

Dualität von Exploitation und Exploration
Im Bereich der Unternehmensführung kann, unter Rückbezug beispielsweise auf John Kotter, ein bestmöglicher Umgang mit dynamischen Anforderungen von außen, wie sie derzeit durch den digitalen Transformationsprozess entstehen, als eine wahrscheinliche Strategie gelten, dass Unternehmen in der einen oder anderen Form wirtschaftlich überleben werden (siehe u.a. Kotter, 2015)7. So kommt er zu der von ihm als fundamental bezeichneten Schlussfolgerung, dass sich die Welt in zunehmend höherem Tempo verändere und daher Systeme, Strukturen und Kulturen, wie sie sich noch im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt haben, nunmehr steigenden neuen Anforderungen aus den sich zeigenden Dynamiken nicht mehr gleichermaßen gewachsen seien, wie noch im letzten Jahrhundert. Er stellt heraus, dass eine weitere Optimierung des Bisherigen nicht dazu beitragen kann, mit und im Wandel erfolgreich zu agieren, sondern vielmehr ein völlig neuer Ansatz eines „dualen Betriebssystems“ nötig sei:  

„Die Lösung besteht jedoch nicht darin, unser gesamtes Wissen zu verwerfen und noch einmal bei null anzufangen. Sie besteht darin, auf natürliche Weise ein zweites System einzuführen, das den meisten erfolgreichen Unternehmern sogar bereits bekannt sein dürfte. Dabei sorgt das neue System für die notwendige Agilität und Geschwindigkeit, während der Fortbestand des alten Systems Verlässlichkeit und Effizienz gewährleistet“   

(Kotter, 2015, S. 4)7

Was Kotter hier als Dualität von zwei Betriebssystemen einer Organisation bezeichnet, wird an anderer Stelle als organisationale Ambidextrie diskutiert, wenn eine Organisation durch Beidhändigkeit zwei Modi ermöglicht oder ermöglichen muss: Exploitation und Exploration. 

Das Konzept der Ambidextrie wurde wesentlich von O’Reilly und Tushman (u.a. 2008)8, anknüpfend an March (1991)9, in die Diskussion eingebracht. Sie beziehen sich auf die organisationale Ambidextrie als die Fähigkeit eines Unternehmens, gleichzeitig sowohl flexibel Neues zu entwickeln und zu erschließen (Exploration), als auch das Kerngeschäft effizient zu optimieren (Exploitation). Ziel dieser im Grunde sehr pragmatisch ausgerichteten Doppelstrategie oder wie Kotter es mit einem dualen Betriebssystem beschreibt, ist es, das Bestehen oder gar auch Überleben einer Organisation zu sichern, wenn die Rahmenbedingungen von hoher Dynamik und Wandel und derzeit vor allem von digitalen Transformationsprozessen gekennzeichnet sind. Tushman bringt in einem aktuellen Interview die Grundidee von Ambidextrie mit Verweis auf die Systemtheorie auf den Punkt, in dem er betont,  

„dass die Führungskraft und ihr Team gemeinsam zwei völlig unterschiedliche Organisationsgefüge aufbauen müssen. […]: eines für Exploration, eines für Exploitation. Und wesentlich ist dabei, dass diese beiden Systeme selbst inkonsistent sind […]. Es geht darum, Führungskräfte mit der Herausforderung zu konfrontieren, dass sie konsequent inkonsistent sein und völlig verschiedene Organisationsgefüge gleichzeitig aufbauen müssen, um heute und morgen erfolgreich zu sein“.  

(Tushman, 2020, S. 4)1

Eine organisationale Ambidextrie steht also permanent vor der konfliktbehafteten Aufgabe, einen stetigen Wandel in Form eines permanent existierenden Widerspruchs auszuhalten und strukturell wie kulturell zu meistern. Ein deutliches Spannungsfeld äußert sich vor allem in der Frage nach den Ressourcen. Entscheidend für eine organisationale Ambidextrie ist daher das entschiedene Ausbalancieren von Ressourcen für Exploitation und Exploration und damit eine vermeintlich dauerhafte Konkurrenzsituation konstruktiv abzuwenden, um die Unternehmungen für alle Bereiche zukunftsfähig durch Flexibilität und Adaptionsfähigkeit ausrichten und aufstellen zu können. Ein zu starkes Ungleichgewicht zwischen den beiden Modi birgt die Gefahr, zu sehr in den einen oder anderen Modus zu verfallen. Was passiert, wenn zu wenig auf den Wandel und die Dynamik eingegangen wird, wurde eingangs bereits aufgezeigt. 

Organisationale Ambidextrie
Die organisationale Ambidextrie als äußere Kontextbedingung und deren Management durch Führungskräfte steht in den bisherigen Darstellungen im Zentrum. Duwe (2020, S. 28f.)10 fasst in ihrer Arbeit die derzeit diskutierten Formen von Ambidextrie zusammen und differenziert dabei drei Varianten organisationaler Ambidextrie: 

  • Erstens wird von einer sequenziellen Ambidextrie gesprochen, wenn eine zeitliche Trennung der Phasen von Exploration (Innovation) und Exploitation (Prüfung Verstetigung der Innovation) stattfindet, wobei dieses Vorgehen gerade nicht die Gleichzeitigkeit der Beidhändigkeit nutzt, sondern sich an traditionellen Vorgehensweisen in weniger dynamischen Anforderungsumgebungen orientiert. Im Grunde herrscht gerade kaum oder wenig Ambidextrie vor. Im Bildungskontext liegt es nahe, hier an die vielen geförderten Projekte und Vorhaben zu denken, die zumeist mit Ende der (geförderten) Innovationsphase ihr Ende finden. 
  • Zweitens wird von einer strukturellen Ambidextrie gesprochen, wenn eine räumliche Trennung von Exploration und Exploitation erfolgt. Hier können die Modi Exploitation und Exploration sehr wohl gleichzeitig und nebeneinander funktionieren. Im Bildungsbereich könnte man hier beispielsweise an Parallelstrukturen von etablierten linienförmig organisierten IT-Service-Diensten und Supportstrukturen (Exploitation) sowie netzwerkartig strukturierten Makerspaces oder DigitalHubs oder MediaLabs (Exploration) denken. Die besondere Herausforderung besteht darin, sich diese Strukturen nicht in einem Konkurrenzverhältnis entwickeln zu lassen, sondern diese miteinander in Verbindung zu bringen und Brücken zwischen ihnen zu bauen. Duale nebeneinander existente Strukturen beidhändig in der Organisation aufzubauen und zu kultivieren, ist also das Ziel dieser Form von Ambidextrie (siehe dazu auch das Beispiel von Tushman (2020)1 zum Umgang der Harvard Business School HBS mit den Herausforderungen der Digitalisierung im Sinne einer organisationalen Ambidextrie). 
  • Besonders interessant wird nun drittens, die kontextuelle Ambidextrie als weitere und anspruchsvollste Form einer organisationalen Ambidextrie. Sie bezeichnet eine Form von Ambidextrie, wenn Exploitation und Exploration innerhalb einer Organisation oder eines Organisationsbereiches gleichzeitig erfolgen und weder Struktur noch Sequenzierung für eine augenscheinliche Trennung der Modi sorgen. Kontextuelle Ambidextrie ist die anspruchsvolle Form der Beidhändigkeit, beide Modi gleichzeitig vorzufinden und integrierend miteinander auszubalancieren und in Verbindung zu bringen. Hier werden die Beispiele in allen Bildungsbereichen vom schulischen, beruflichen über hochschulischen, erwachsenbildnerischen und weiterbildenden rar. Doch genau hier wird für die zukünftige, inkrementelle und agile Entwicklung von Bildung die große Chance gesehen, um mit einem Agile Educational Leadership anzuknüpfen.  

Denn genau genommen lassen eine sequenzielle wie auch strukturelle Ambidextrie eine ‚entweder oder‘-Perspektive zu. Erst eine kontextuelle Ambidextrie fordert auf der Ebene der Organisation und Strukturen in den unterschiedlichen Bereichen von Bildung zu einer konsequenten ‚sowohl als auch‘-Perspektive heraus, wie sie für ein Agile Educational Leadership von der Grundidee konstitutiv ist. Und nochmals genauer betrachtet, erscheint es nur folgerichtig, dass auch eine kontextuelle Ambidextrie nicht zwingend nur die Entscheidung und das Agieren allein auf zwei Optionen begrenzt – gerade mit Blick auf komplexe Problemstellungen stehen zumeist mehr als zwei Optionen im Raum, die miteinander ausbalanciert gehören.

Intellektuelle Ambidextrie
Bisher stand die Organisation als Bezugspunkt von Ambidextrie im Zentrum. Doch gerade die kontextuelle Ambidextrie eröffnet die Möglichkeit auf der Akteur_innenebene neben der Organisation auch die Personen stärker einzubeziehen. Gerade im Bildungsbereich zeigt sich deutlich, dass Bildungsorganisationen mit und durch alle Personen als Akteur_innen geprägt und entwickelt werden – und zwar gemeinsam. 

Ergänzend zur kontextuellen Ambidextrie ist für ein Agile Educational Leadership, das alle Personen im Bildungsbereich übernehmen können, insofern die vierte Form von Ambidextrie ein interessanter Zugang. Denn Duwe (2020)10 erfasst nun weiter, viertens, eine intellektuelle Ambidextrie, die eine Beidhändigkeit durch innere, persönliche Bedingungen in Betracht zieht. Diese Flexibilität äußere sich beispielsweise in Cross-Over-Fähigkeiten einzelner Personen, die Expertise oder auch Begabung in mehr als einem Fachgebiet besitzen und in der Lage seien, diese auszubalancieren. Im Bildungsbereich würde man hier vermutlich von Kompetenzen und einer souveränen Haltung gegenüber Interdisziplinarität oder gar Transdisziplinarität sprechen. Ebenso lässt sich vorstellen, dass solchen Persönlichkeiten ein Umgang mit kultureller Veränderung und (lehrbezogenem) Wandel im Bildungsbereich leichter fallen könnte als anderen Personen.

Mit Blick auf klassische Führungskräfte im Management findet Tushman hier eher auf traditionelle Führungsmodelle ausgerichtete, doch dennoch deutliche Worte, wie relevant ein Zusammenspiel von organisationaler und intellektueller Ambidextrie sein könnte:  

„Wie besprochen, sind ambidextre Strukturen einfach zu platzieren, Verknüpfungsmechanismen ebenso. Der eine entscheidende Faktor, der zwischen Erfolg und Scheitern ent­scheidet, ist die Fähigkeit der Führungskraft und ihres Teams, sich auf Widersprüche und Paradoxien einzulassen. Diese Kompetenz, mit Widersprüchlichkeit d’accord und konsequent inkonsistent zu sein, macht die erfolgreichsten ambidextren Unternehmen aus. Führungsfähigkeiten definieren also den Unterschied zwischen PowerPoint­Folien und Umsetzung. Aber anders als bei typischen, Beständigkeit verlangenden Führungsansätzen fordern wir Führungskräfte dazu auf, Widersprüchlichkeit und Paradoxe zu bejahen und dem Unternehmen eine Identität zu geben, die diese Widersprüchlichkeit in sich tragen kann.“  

(Tushman 2020, S. 9)1

Im Bildungsbereich würde man nun heute nicht mehr durchgängig von Führungskräften und Teams sprechen, sondern vielmehr vom Übernehmen von Leadership, wie in nachfolgenden Kapiteln noch zu zeigen sein wird. Doch genauso verlangt zukünftige Bildung zu gestalten heute bereits eine Perspektive des ‚bejahen-Könnens‘ im Wandel oder vereinfacht gesagt, einer souveränen ‚sowohl als auch‘-Perspektive als Teil professioneller Gelassenheit im Umgang mit kulturellen Veränderungen und lehrbezogenem Wandel.  

Da gerade mit Blick auf weitere Kategorien nicht allein der Intellekt, sondern darüber hinaus mindestens soziale und kommunikative Fähigkeiten zur Beziehungsgestaltung eine wesentliche Rolle für vor allem eine kulturelle Veränderung im Bildungsbereich spielen, wird mit Blick auf die Akteur_innenebene der Personen, die in ihren Bereichen ein Agile Educational Leadership übernehmen können, hier in einem umfassenderen Sinne von einer personalen oder persönlichen Ambidextrie gesprochen.  

Personale Ambidextrie als Referenzpunkt für Agile Leadership

Hinter der Idee eines Agile Educational Leaderships steckt primär keine Methode, sondern vielmehr eine Haltung und ein Mindset der Offenheit und Flexibilität im Umgang mit Dynamiken und Transformationsprozessen. Insofern sucht dieser Ansatz Anknüpfungspunkte darin, eine kontextuelle organisationale und personale, situierte Ambidextrie im Sinne eines konsequenten, integrierenden ‚sowohl als auch‘ zu denken und damit zu agieren, denn in differenzbezogene und abgrenzende ‚entweder oder‘-Sicht- und Handlungsweisen zu verharren. Bezogen auf die Person geht es also hier primär um eine Rolle und Grundhaltung und keine Funktion. 

Zugleich wird deutlich, dass die Bewältigung einer kontextuellen Ambidextrie auf Ebene der Organisation kaum von der Person und damit einer personalen Ambidextrie abgetrennt betrachtet werden kann. Hinzu kommt die wesentliche Rolle von Kultur und Werten für einen gelingenden Wandel. Auf den Personen in diesem Gesamtgefüge lastet also eine enorm ambivalente Herausforderung in einem höchst diversen, inkonsistenten und gar mitunter paradoxen Rahmen souverän und integrierend agieren zu können – immer mit Blick auf die widersprüchlichen Felder von Exploration und Exploitation und die Fähigkeit situationsangemessen zu priorisieren, zu kuratieren und zu integrieren. Nun kann man das als übermenschliche Anforderung bezeichnen, permanent in solchen Spannungsfeldern unterwegs zu sein ohne völlig klare Linien und  ‚entweder oder‘-Konstellationen. Dabei zeigt sich nun an dieser Stelle besonders der Beitrag, den eine Educational Perspektive hier im Sinne von Professionalität im Bildungsbereich mit sich bringt: Der Umgang mit widersprüchlichen Situationen für die es häufig erstmal keine klaren Regeln, sondern lediglich ein situatives, fallbezogenes Handeln auf Basis von Theorie- und Praxiswissen gibt, stellt bereits über Jahre einen selbstverständlichen Teil pädagogischer Professionalität dar. Hier zeigt sich zudem eine im Zuge agiler Werte und Leadership noch weiter auszuführende grundlegende Anschlussfähigkeit an die sogenannten konstitutiven pädagogischen Handlungsantinomien (Helsper, 1996, S. 537)11. So spielt beispielsweise für Ambidextrie im Sinne unvereinbarer Gegensätze in Form einer Antinomie oder Paradoxie zwischen Beständigkeit und Innovation eine wesentliche Rolle. Weitere Antinomien oder Paradoxien im pädagogischen Handeln sind beispielsweise die Widersprüchlichkeit zwischen Organisation und Interaktion oder Nähe und Distanz wie auch schon die, im Kontext der Personenorientierung angeführte, paradoxe Situation zwischen Autonomie und Heteronomie bzw. Selbst- und Fremdbestimmung.  

Um in dieser ambidextren Widersprüchlichkeit trotzdem handlungsfähig zu bleiben und agieren zu können, wird für den souveränen Umgang mit einem stetig dynamischen Umfeld, der Frage nach der Rolle und Bedeutung von agilen Werten und Prinzipien wie auch Praktiken weiter nachgegangen. 

Denn es stellt sich durchaus die Frage, inwiefern nicht gerade im Bildungsbereich tätige Personen sich permanent in ambidextren Situationen zwischen Exploitation und Exploration wiederfinden, in denen sie iterativ und damit agil wie beidhändig, die unterschiedlichen Anforderungen und Zielsetzungen für sich und ihr Umfeld kuratieren und bewältigen müssen und damit für ihren jeweiligen Bereich ein entsprechendes Leadership übernehmen oder übernehmen könnten, um in der Organisation und mit den Personen Brücken zu schlagen. 

Letzte Aktualisierung am 26.05.2021 (Changelog)

 
  1. Tushman, M. (im Gespräch mit) T. Schumacher (2020). Ambidextrie gestern und heute. Ein Interview mit Mike Tushman. OrganisationsEntwicklung, 4, 4–9. [] [] [] []
  2. Bildlizenz: https://de.freepik.com/psd/mockup”>Mockup PSD erstellt von Vectorium – de.freepik.com; Buch-Cover by Kerstin Mayrberger, Lizenz CC BY 4.0 []
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Falsifikationismus, abgerufen am 06.04.2021 []
  4. Huber, Ludwig (2009). Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In: L. Huber, J. Hellmer, & F. Schneider (Hrsg.): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen. (S. 9-35). Bielefeld: UniversitätserlagWebler. []
  5. Huber, L., & Reinmann, G. (2019). Vom forschungsnahen zum forschenden Lernen an Hochschulen. Wege der Bildung durch Wissenschaft. Wiesbaden: Springer VS. doi: 10.1007/978-3-658-24949-6 []
  6. Kerres, M. (2020). Against All Odds: Education in Germany Coping with Covid-19. Postdigital Science and Education, 2, 690-694. doi:10.1007/s42438-020-00130-7. []
  7. Kotter, J. P. (2015). Accelarate. Strategischen Herausforderungen schnell, agil und kreativ begegnen.München: Vahlen. [] []
  8. O’Reilly, C., & Tushman. M. (2008). Ambidexterity as a dynamic capability: Resolving the innovator’s dilemma. Research in Organizational Behavior, 28, 185–206. doi:10.1016/j.riob.2008.06.002 []
  9. March, J. G. (1991). Exploration and exploitation in organizational learning. Organization Science, 2, 71–87. []
  10. Duwe, J. (2020). Beidhändige Führung: Wie Sie als Führungskraft in großen Organisationen Innovationssprünge ermöglichen. Berlin: Springer Gabler. [] []
  11. Helsper, W. (1996). Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten pädagogischen Kulturen. In W. Helsper & A. Combe (Hrsg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns (S. 70–182). Frankfurt am Main: Suhrkamp. []
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